von Jess Jochimsen
Liebe Preisträgerinnen, liebe Jury,
sehr geehrte Damen und Herren,
der Preis, dessentwegen wir hier sind, erinnert nicht nur an das Wirken seines Namensstifters, er beinhaltet in seiner vollen Betitelung auch ein „wofür“. Weil dieses „wofür“ ziemlich wundervoll ist und weil es die Preisträgerin, die ich loben möchte, so treffend beschreibt, sei es einmal komplett genannt und ausgesprochen. Und zwar gleich, im ersten und wichtigsten Satz:
Der diesjährige „Berndt Koberstein Preis für Zusammenleben und Solidarität in Freiburg“ geht – wie ich finde, zu Recht und aus besten Gründen – an die „Freiburger Initiative gegen Arbeitslosigkeit, friga, Sozialberatung in der Fabrik“. Herzlichen Glückwunsch!
Zur formalen Vorbereitung auf diese Lobrede habe ich in meinen alten Uni-Unterlagen gewühlt. Sowohl in Germanistik als auch in Politikwissenschaft habe ich Rhetorik-Seminare besucht und irgendwo musste doch stehen, wie das eigentlich geht, so eine Laudatio halten. Meine Suche war nicht besonders erfolgreich, obwohl ich das Handout „Hilfestellung für eine gelungene Rede“ tatsächlich wiederfand, und auch die „Grundzüge der politischen Rhetorik“. Hängen geblieben bin ich allerdings bei einem vergilbten DinA4-Zettel: „Merkblatt für den perfekten Small-Talk“.
Noch würden wir das vielleicht belächeln, hatte der Prof erklärt, aber wir würden wir in unserem Leben wohl nichts so oft brauchen können wie dieses Blatt Papier. Mit Füller habe ich damals an den Rand geschrieben und unterstrichen: „Wichtig für später!“
Allzuviel steht auf dem Merkblatt gar nicht. Zunächst zwei goldene Regeln. Erstens: Gespräche über das Wetter vermeiden. Zweitens: Die richtigen Fragen stellen. Das klingt schaffbar.
Diese „richtigen“ Fragen sind dann in, wie es wörtlich heißt, „fünf entscheidende Themen-Bereiche“ eingeteilt, entscheidend deswegen, weil jede und jeder etwas damit anfangen könne. Nur so funktioniere und glücke Kommunikation.
Themen-Bereich Eins: „Fragen über das Reisen“, denn das kennt schließlich einjeder; Fragen also wie: „Was war deine coolste Reise?“, „Wo waren Sie zuletzt?“, „Wohin geht’s im Urlaub?“
Thema Nummer Zwei: „Essen“ (klar, das tun ja alle). „Welches ist das seltsamste Essen, dass Sie je probiert haben?“, „Was kochst du am besten?“, „Haben Sie einen abgefahrenen Resaturant-Tipp für mich?“
Dann: „Fragen über Trends und aktuelle Ereignisse“. „Was ist dein Lieblings-Musikfestival?“, „Welchen Film haben Sie zuletzt gesehen?“
„Fragen zur Lebensgeschichte?“: Haustiere, Hobbies, „Welche Hochschule haben Sie besucht?“
Und schlußendlich: „Beruf und Karriere“. „Was magst du an deiner Arbeit am meisten?“, „Was war das Verückteste, das du in deinem Job je gemacht hast?“ „Steht bei Ihnen ein neues Projekt an?“
Wenn man sich an diese Fragen hielte, stünde einem guten, einem gelingenden Gespräch nichts mehr im Wege. Wir haben in der Tat gegrinst, seinerzeit im Seminar. „So reden wir also später mal.“
Nur: Warum, verdammt nochmal, ist damals eigentlich niemand aufgesprungen und hat gebrüllt: „Und was ist mit denen, die keine Arbeit haben? Oder einen Job, von dem sie kaum leben können?“
Es kam in unserem Kosmos nicht vor. Nicht eine der „entscheidenden Fragen“ würden wir stellen. Noch könnten wir auch nur eine einzige beantworten. „Wohin geht’s im Urlaub?“, „Welchen Film haben Sie zuletzt gesehen?“. Welch Zynismus. „Haben Sie einen abgefahrenen Resaturant-Tipp für mich?“, „Was magst du an deiner Arbeit am meisten?“
Wir kämen wohl noch nicht mal in die Verlegenheit, überhaupt allzuoft Small Talk zu führen.
Ich weiß nicht, was Torsten Glaser gefragt und gedacht haben mag, Anfang der 1980er Jahre, als er seinen Job als Sozialarbeiter verlor. Aber vermutlich ging es ihm wie den vielen anderen, die trotz teilweise bester akademischer Ausbildung, keine Arbeit fanden. Man kann die Fassungslosigkeit nur erahnen. Die Scham. Die Wut. Die Schuldgefühle, nicht zu genügen.
Torsten tat, was damals wie heute ratsam ist: Er offenbarte sich anderen und schloss sich mit ihnen zusammen. Als Betroffene nicht allein zu sein. Darum ging und geht es. Die Möglichkeit, seine Geschichte erzählen zu können. Informationen auszutauschen. Gemeinsam aufs Amt zu gehen. Die Öffentlichkeit zu suchen.
Im Interview erzählt Torsten von den Anfängen: „Wir waren eine Selbsthilfegruppe mit politischem Anspruch.“
Der Satz enthält einen kleinen Fehler: Die Menschen von der „friga“ waren es nicht nur, sie sind es noch. Und man kann es gar nicht hoch genug schätzen, dass sie neben dem Tagesgeschäft – den Beratungen, der Hilfe beim Ausfüllen komplizierter Formulare, der laufenden eigenen Weiterbildung, dem Durchsteigen in der immer irrsinniger werdenen Arbeits- und Sozialrechtssprechung, dem ständigen Kampf ums Geld und und die eigene Existenz – dass sie neben all dem bis heute nicht müde geworden sind, politisch in die Offensive und die Öffentlichkeit zu gehen; mit Vorträgen, Publikumsgesprächen, Infoveranstaltungen, Demos. Es ist schlicht bewundernswert.
Und es ist ja nicht so, dass in den vielen Jahren, in denen es die Initiative jetzt gibt, nichts passiert wäre. Pünktlich zum 20. Geburtstag der „friga“ etwa hielt Gerhard Schroeder seine Regierungserklärung zur Agenda 2010:
„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“
Sie wissen alle, was dieser Satz, in die Realität übersetzt, bedeutete: Seit der Einführung von Hartz IV explodierte die Zahl prekärer und schlecht bezahlter Jobs. Und Sie können sich vorstellen, dass in Zeiten guter Arbeitsmarktlage, wie derzeit, die Schuldgefühle der Erwerbslosen noch größer werden und der Druck stetig zunimmt, zumal erwartet wird, dass man nahezu alle Arbeitsbedingungen zu akzeptieren habe.
Ich kann Ihnen aus dem Stand ein Dutzend Kabarettprogramme nennen, in denen darüber gewitzelt wurde, dass ein „Hausmeister“ nun „Facility Manager“ heiße, und die „Sekretärin“ „Head of Verbal Communications“, aber darüber, dass aus dem „Bundesamt für Arbeit“ eine „Agentur“ wurde, sprach kaum jemand.
Wir alle erinnern uns noch an die mediale Dauerbefeuerung mit dem Bild vom Sozialhilfeempfänger in der Hängematte am Strand, vom faulen Arbeitsverweigerer, der es sich auf Kosten der Gemeinschaft gut gehen lässt. Die „friga“ sah andere Bilder. Und sie begann auch früh damit, den Begriff der „Arbeitslosigkeit“ zu hinterfragen. Nicht „Arbeit“, und deren Fehlen, ist der zentrale Punkt, sondern das Fehlen eines Erwerbseinkommens. Präsentierte die BA in Nürnberg allmonatlich nicht die „Arbeitslosenzahlen“, sondern die der „Erwerbslosen“, sie sähen ganz anders aus. Und hätte sich die „friga“ nicht 1983 gegründet, sondern heute, sie trüge mit Sicherheit statt dem „a“ ein „e“ im Namen.
Und was „Erwerbslose“ teilweise über Jahre erdulden, lässt sich nicht anders beschreiben als eine andauernde Kultur der Demütigung. Nicht zuletzt deswegen hat die „friga“ vor neun Jahren das extrem aufwändige und mittlerweile sehr erfolgreiche Projekt „Keiner geht allein aufs Amt“ aufgelegt. Durch Schulungen und Supervisionen wurde ein Pool von Beiständen aufgebaut, die tatsächlich mitgehen. Die sich auskennen. Die die Behördensprache sprechen. Die Zeuge sind, Begleiterin, Zuhörerin und Ratgeber. Dieses Projekt, dieses Zeichen, ist so großartig, denn es bedeutet nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe, sondern Freundschaft:
„Du muss da nicht allein hin. Ich weiß, wie dir zumute ist, ich komme mit.“ Ich finde es wirklich Wahnsinn: Niemand, niemand, der oder die das nicht möchte, geht allein aufs Amt! Welches natürlich längst ein „Jobcenter“ ist.
Dass fehlendes oder zu geringes Erwerbseinkommen seine Auswirkungen mit besonderer Härte in die Zukunft trägt, gelangt mehr und mehr in den Focus. Schon sehr lange beackert die „friga“ deswegen das Feld der „Altersarmut“. Wir machen uns, glaube ich, überhaupt noch keinen Begriff davon, wie sehr uns dieses Thema noch peitschen wird. Die großen Meinungsmacher, die jahrelang Angst geschürt haben, haben das allerdings längst kapiert und schwenken um. Genau vor einem Monat zum Beispiel titelte die BILD-Zeitung: „Deutschlands Rentner erzählen. Einsamkeit ist schlimmer als Armut.“ Als führte das fehlende Geld nicht zu mangelnder sozialer Teilhabe. Einsamkeit ist eine Folge von Armut. It’s the economy, stupid!
Es ist eine traurige Wahrheit, dass sich Arbeits- und Erwerbslose nutzlos fühlen. Aber man muss nicht Foucault gelesen haben, um zu verstehen, dass sie selbstverständlich „nützlich“ sind – ideologiekritisch betrachtet; nützlich nämlich zur Disziplinierung der Erwerbstätigen. „Bloß nicht abrutschen! Bloß kein Hartz IV!“
Liebe „friga“, es ist gut und richtig und wunderbar, dass es Euch gibt; dass ihr stets systemisch arbeitet und streng parteiisch – auf der Seite der Betroffenen; dass ihr sagt: „Wir lassen euch nicht allein.“ Und immer wieder: „Ihr seid nicht schuld!“
Auf jedem Flyer der „friga“ steht: „Wir können anders ...“ und diese kleine Freiburger Initiative beweist das seit 36 Jahren täglich.
Aber mit diesem „wir“ sind auch wir alle gemeint. Und das ist kein Konjunktiv. Wir alle „könnten“ nicht nur, wir „können“. Wir können anders. Andere Fragen stellen zum Beispiel. Auch beim Small-Talk. Über was haben wir denn etwa gestern gesprochen? Mit unseren Bekannten? Am „Tag der Arbeit“? Wir können anders. Wir können spenden. Jederzeit, niemand hindert uns daran. Die Kontonummer steht ebenfalls auf dem Flyer. Wir können uns schulen lassen, es ist gar kein Hexenwerk, und dann andere begleiten beim Gang aufs Amt. Können wir. Wir können es beschämend finden, dass die „friga“ die an die 1000 Beratungen pro Jahr mit nur einer Stelle sowie einer Honorarkraft stemmen muss. Wir können diesem beschämenden Umstand Ausdruck verleihen, öffentlich oder auch Ende des Monats bei der Wahl.
Wir können Arbeit anders denken. Wir können anders!
Liebe Gaby Wülfers und Inge Zeller, die Ihr Euch die eine Vollzeitstelle teilt, lieber Werner Altmann, liebe Nicole Kemper und Georg Giesebrecht als Vorstände, liebe Waltraud Vasold, lieber Torsten und alle, die darüberhinaus bei der „friga“ unentgeltlich wirken, und die ich niemals neudeutsch „non profit manager“ nennen würde, sondern immer, bewundernd und auf den Wortsinn achtend, „Ehrenamtliche“ – es ist sehr schön, dass ihr da seid, für andere, in dieser Stadt.
Der „Berndt Koberstein Preis für Zusammenleben und Solidarität in Freiburg“ geht 2019, zu Recht und aus besten Gründen, an Euch. Danke.