Freitag, 3. Mai 2019

Laudatio Straßenschule Freiburg


von Dirk Oesselmann


Liebe Gäste und Mitwirkende dieser Preisverleihung, liebe Engagierte, besonders die der Straßenschule, sehr geehrte Damen und Herren,

„Wir gehen dorthin, wo keiner hinwill!“ – „Wir sind mit denen, die keiner sehen will!“ – „Wir sind bei denen, die keiner hören will!“ So definierten sich die Streetworker, mit denen ich vor vielen Jahren in meiner Arbeit mit Straßenkindern im Großraum São Paulo Kontakt hatte. Zwei Dinge sind daran bemerkenswert: Einmal die besondere Aufmerksamkeit auf die No-Go / No-See / No-Hear-Menschen. Ja, es gibt sie: Menschen, die mitten unter uns sind und trotzdem ist es so, als ob sie nicht da wären. Zum anderen, es kommt darin eine gegenläufige Dynamik gegen ein gesellschaftliches Nicht-Wollen zum Ausdruck, gegen auch emotional begründete Ausgrenzung.



Die Qualität eines gesellschaftlichen Zusammenlebens kann nur danach beurteilt werden, wie in ihm verwundbare Menschen wahrgenommen und berücksichtigt werden. Bei uns in Freiburg, einer verhältnismäßig reichen Stadt finden wir die Wunden dieser Menschen mitten im Zentrum, mitten unter uns. Aber sie werden auch hier nur selten bewusst wahrgenommen – und wenn dann mit Skepsis und einem „großen Bogen drum herum“.

Und damit kann ich zur Bedeutung der Straßenschule kommen und mit meiner eigentlichen „Lobrede“ = Laudatio beginnen…

Die Straßenschule Freiburg nimmt sich der Wunden von Jugendlichen an, die an den Rand von Existenz und Gesellschaft geraten sind. Wenn die Straße zum Lebensmittelpunkt wird, geht den Menschen Grundlegendes wie Schutz, Rückzugsmöglichkeiten sowie fördernde Begleitung verloren. Da setzt die Straßenschule an: Den Jugendlichen werden in solch schwierigen Umständen Bedingungen gegeben, sich neu im Leben aufzustellen und als Person zu entwickeln. Vor allem werden sie aber in ihrer besonderer Art und Weise anerkannt, gesehen und gehört. Anstatt Defizite stehen mögliche Stärken und Potentiale im Mittelpunkt.

Mehr als 20 Jahre gibt es die Straßenschule, genau seit 1997. Das SOS-Kinderdorf Schwarzwald als Trägerin kooperiert dabei mit der Freiburger StraßenSchule e.V. Die Arbeitsbereiche sind vielfältig und bieten ein umfassendes Bild an Unterstützung und Begleitung: StreetWork, eine mobile Anlaufstelle („StreetMobil“), eine Tagesanlaufstelle, den Kreativraum „Galerie UpArt“, drei Wohnprojekte, individuelle Hilfen („Flexible Begleitung“) und Präventivarbeit in einer Regelschule („WerkstattSchule“). All das wird beeindruckend auf der Homepage dargestellt. Und genau diese Vielfalt an Annäherungsmöglichkeiten ist zentral, um innere und externe Hürden zu überwinden, verständliche Sprache zu kreieren sowie geeignete Formate für ein Stück gemeinsamen Weg zu finden.

Ich selbst hatte den ersten Kontakt mit der Straßenschule vor 10 Jahren. Mit den damaligen Mitarbeitenden versuchten wir die Bedeutung einer Pädagogik der Unterdrückten des Brasilianers Paulo Freire für den hiesigen Kontext herauszuarbeiten. Der Ausgangspunkt von Veränderung ist für ihn die Selbstwahrnehmung, das verinnerlichte Vorurteil: „Das schlimmste Voruteil ist das, was ein Mensch gegenüber sich selbst haben kann!“ Damit wurde deutlich, dass die Begleitung der Jugendlichen nicht nur soziale Unterstützung meint, sondern es ist im Kern Bildung: Bildung von Persönlichkeit und Selbstwert von vielfach an den Rand Gedrängten. Aber auch Bildung im Sinne von Veränderung der Gesellschaft: die Bildung von solidarischer Wahrnehmung sowie Bildung von gesellschaftlicher Wertschätzung und Mitverantwortung.

In diesem Sinne ist die Auszeichnung am heutigen Abend durch den Berndt Koberstein-Preis eine Aufforderung an uns alle, das zu unterstützen, was keiner oder keine wahr haben will, das zu sehen, was keiner oder keine wahrnehmen will. Dass das dezent und einfühlsam geschehen muss, um niemanden zu exponieren, das zeigen die Unterstützerbriefe der Straßenschule. Unser großer Dank gilt der Straßenschule, dass sie genau hier gesellschaftlich wirkt, herausfordert und provoziert. Der Preis ist eine große, berechtigte Anerkennung dieses Wirkens und kann als ein weiterer Baustein die zukünftige Arbeit auf ein nachhaltiges Fundament stellen.

Herzlichen Glückwunsch und viel Kraft für alle zukünftigen, für unsere Stadtgesellschaft so wichtigen Aktionen!